Der Besuch der alten Dame

Autor: Friedrich Dürrenmatt
Erscheinungsjahr: 1956
Gattung/Genre: Drama, Komödie

Inhalt

Die Milliardärin Claire Zachanassian besucht die verarmte Kleinstadt Güllen, in der sie einst ihre Kindheit und Jugend als Klara („Kläri“) Wäscher verbracht hat. Während die Einwohner auf finanzielle Zuwendungen und Investitionen hoffen, will Claire vor allem Rache für ein altes Unrecht: Als sie im Alter von 17 Jahren von dem 19-jährigen Güllener Alfred Ill ein Kind erwartete, leugnete dieser die Vaterschaft und gewann mit Hilfe bestochener Zeugen den von Klara gegen ihn angestrengten Prozess. Entehrt, wehrlos und arm musste Klara Wäscher ihre Heimat verlassen, verlor ihr Kind, wurde zur Prostituiierten, gelangte jedoch später durch die Heirat mit einem Ölquellenbesitzer (der noch acht weitere Ehen folgten) an ein riesiges Vermögen.

Die inzwischen hochangesehene „alte Dame“ hat insgeheim, als Vorbereitung für ihren Besuch, in der Vergangenheit alle Güllener Fabriken und Grundstücke aufgekauft, um die Stadt allmählich zu ruinieren. Nun, 45 Jahre nach ihrer Vertreibung, unterbreitet sie den auf diese Weise für Korruption und finanzielle Strohhalme besonders empfänglich gewordenen Güllenern ein ebenso verlockendes wie unmoralisches Angebot und verspricht: „Eine Milliarde für Güllen, wenn jemand Alfred Ill tötet. Gerechtigkeit für eine Milliarde.“ Diese Forderung lehnen die Bewohner zunächst zwar entrüstet ab, beginnen jedoch gleichzeitig, über ihre Verhältnisse zu leben, sich Geld zu borgen und auszugeben, und die Kaufleute gewähren Kredite, so als ob alle mit einem baldigen Vermögenszuwachs rechnen könnten. Vergeblich bemüht sich Ill, Claire umzustimmen, seinen Fehler zu entschuldigen und seinen Freunden ins Gewissen zu reden. Es gibt niemanden, der sich nicht gern vom unerwarteten Wohlstandsbazillus infizieren liesse. Der Bürgermeister gibt den Bau eines neuen Stadthauses in Auftrag, der Pfarrer hat bereits eine neue Glocke für die Kirche gekauft. Insbesondere bei dem Gespräch zwischen Ill und dem vermeintlich vertrauenswürdigen Pfarrer wird deutlich, dass niemand hinter Ill steht. Jedermann stolziert plötzlich in nagelneuen gelben Schuhen wie auf Goldtalern daher, und selbst Ills eigene Familie macht den Konsumrausch mit: Seine Frau kauft sich einen teuren Pelzmantel, der Sohn ein schnelles Auto und die Tochter nimmt Tennisunterricht. Sie alle heucheln Solidarität, erklären „ihren Ill“ scheinheilig zum „beliebtesten Bürger der Stadt“ und spielen die allgemeine Gefahr herunter. Nur der Lehrer des Ortes, der sich als „Humanist“ zu Gewissensbissen verpflichtet fühlt, wagt es, die Wahrheit auszusprechen – allerdings nur, wenn er hoffnungslos betrunken ist und daher nicht mehr ernst genommen wird.

Als Ill schliesslich, von Schuld und Angst zermürbt, fliehen und nach Australien auswandern will, wird er von den Güllenern zum Abschied umringt: In der Gewissheit, „einer“ werde ihn zurückhalten, wagt er es nicht, den Zug zu besteigen, der ohne ihn abfährt. „Ängstlich wie ein gehetztes Tier“ erkennt Ill: „Ich bin verloren.“ Wenig später bringt ihm der Bürgermeister ein geladenes Gewehr und lässt es, zum Selbstmord einladend, in Ills Laden zurück. Der jedoch zögert, wächst über sich selbst hinaus und besinnt sich anders. Aus seiner Resignation wird Einsicht und er beschliesst sich, seinen Mitbürgern auszuliefern. Stolz lässt der Bürgermeister in der Presse verkünden, Frau Zachanassian habe durch Vermittlung ihres Jugendfreundes Ill der Stadt eine Milliardenstiftung geschenkt. Vor laufenden Kameras stimmen die Bürger über Annahme oder Ablehnung der Stiftung ab, also eigentlich über die Tötung Ills. Diese wahre Bedeutung bleibt der Presse allerdings verborgen. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit bilden dann die Bürger eine Gasse für Ill, die sich immer enger um ihn schliesst. Als sie sich wieder öffnet, liegt Ill tot am Boden. „Herzschlag“ und „Tod aus Freude“ sind die Kommentare von Amtsarzt und Bürgermeister; die Presse übernimmt diese Meinung. Claire lässt den Toten in einen mitgebrachten Sarg legen – „Er ist wieder so, wie er war“ –, händigt dem Bürgermeister den Milliardenscheck aus und reist ab nach Capri, wo bereits ein Mausoleum auf Ills Leichnam wartet. (Wikipedia.org, 2024)

Rezension

Meiner Meinung nach ist "Der Besuch der alten Dame" ein sehr besonderes Drama, in dem Dürrenmatt wunderbar mit seinen typischen Stilmitteln wie grotesken Handlungen und überspitzten Charakteren arbeitet und eine unterhaltsame, aber dennoch zum Nachdenken anregende Geschichte erzählt. Die Thematik der angeborenen Gier der Menschen und der Fähigkeit zum Bösen wird sehr ansprechend dargestellt, auch wenn ich persönlich die Sichtweise des Buches nicht teile. Dennoch kann man von einem fundierten und beeindruckenden Werk sprechen, das ich Fans oder Interessierten an Dürrenmatts Werken nur empfehlen kann.

Figurenkonstellation

Claire Zachanassian

Claire Zachanassian

Abbildung 1: Claire Zachanassian dargestellt von Lauren Bacall (passiton.cft.org.uk, 2024)

Claire ist der Schlüssel zur ganzen Handlung. Durch ihren Racheplan stürzt sie Güllen zuerst in den Ruin, um sie dann mit ihrem verheerenden Angebot wieder zu retten.

Alfred Ill

Alfred Ill

Abbildung 2: Alfred Ill dargestellt von Hans Mahnke (rarefilmsandmore.com, 2024)

Alfred ist der Protagonist. Er ist derjenige, an dem Claire ihre Rache ausüben will. Er ist ein moralisch korrupter Mann, der in seiner Jugend Claire hintergangen und sie mitsamt Kind verlassen hat. Anfangs des Buches leugnet er die Verantwortung für sein Handeln, doch am Ende erkennt er seine Schuld und nimmt die Konsequenzen auf sich.

Die Güllener

Die Güllener

Abbildung 3: Die Güllener (Symbolbild) (themoviedb.org, 2024)

Die Güllener verkörpern die Gier und den Egoismus der Menschen. Sie heucheln anfangs des Buches Alfred die Freundschaft vor, nur um ihm schlussendlich den Garaus zu machen.

Figurenkonstellation

Abbildung 4: Figurenkonstellation (lektuerehilfe.de, 2024)

Form und Struktur

Das Buch ist ein Drama, welches zum ersten Mal am 29. Januar 1956 in Zürich aufgeführt wurde. Da das Buch als Drama konzipiert wurde, ist es auch geschrieben wie ein solches – die einzelnen Sprechteile sind beschriftet und die Handlung ist in Akte unterteilt. Das Stück ist drei Akte lang und hat eine klare dramatische Struktur. Die Sprache ist einfach gehalten, in klarem und üblichen Hochdeutsch. Das alles verleiht dem Buch, sollte man es lesen und nicht als Theaterstück konsumieren, eine absurde Note – die budgetierte Umgebung und wie die Szenerie beschrieben wird, ist perfekt im Einklang mit dem Grotesken und Absurden, das sich ebenfalls im Inhalt selbst widerspiegelt.

Interpretation einer Textstelle

Textstelle:

Die Güllener bilden eine kleine Gasse, an deren Ende der Turner steht, nun in eleganten weissen Hosen, eine rote Schärpe über dem Turnerleibchen
DER BÜRGERMEISTER Herr Pfarrer, darf ich bitten.
Der Pfarrer geht langsam zu Ill, setzt sich zu ihm.

DER PFARRER Nun, Ill, Ihre schwere Stunde ist gekommen.
ILL Eine Zigarette.
DER PFARRER Eine Zigarette, Herr Bürgermeister.
DER BÜRGERMEISTER mit Wärme Selbstverständlich. Eine besonders gute.
Er reicht die Schachtel dem Pfarrer, der sie Ill hinhält. Der nimmt eine Zigarette, der Polizist gibt ihm Feuer, der Pfarrer gibt die Schachtel wieder dem Bürgermeister zurück.

DER PFARRER Wie schon der Prophet Amos gesagt hat –
ILL Bitte nicht. Raucht.
DER PFARRER Sie fürchten sich nicht?
ILL Nicht mehr sehr. Raucht.
DER PFARRER hilflos Ich werde für Sie beten.
ILL Beten Sie für Güllen.
Ill raucht. Der Pfarrer steht langsam auf.

DER PFARRER Gott sei uns gnädig.
Der Pfarrer geht langsam in die Reihen der anderen.

DER BÜRGERMEISTER Erheben Sie sich, Alfred Ill.
Ill zögert.

DER POLIZIST Steh auf, du Schwein. Er reisst ihn in die Höhe.
DER BÜRGERMEISTER Polizeiwachtmeister, beherrschen Sie sich.
DER POLIZIST Verzeihung. Es ging mit mir durch.
DER BÜRGERMEISTER Kommen Sie, Alfred Ill.
Ill lässt die Zigarette fallen, tritt sie mit dem Fuss aus. Geht dann langsam in die Mitte der Bühne, kehrt dem Publikum den Rücken.

DER BÜRGERMEISTER Gehen Sie in die Gasse.
Ill zögert.

DER POLIZIST Los, geh.
Ill geht langsam in die Gasse der schweigenden Männer. Ganz hinten stellt sich ihm der Turner entgegen. Ill bleibt stehen, kehrt sich um, sieht, wie sich unbarmherzig die Gasse schliesst, sinkt in die Knie. Die Gasse verwandelt sich in einen Menschenknäuel, lautlos, der sich ballt, der langsam niederkauert. Stille. Von links vorne kommen Journalisten. Es wird hell.
Dürrenmatt, 1998, S. 128f.

Interpretation:

Diese Textstelle zeigt eindrücklich, wie sich die Güllener im Angesicht ihrer bewussten Tat – Alfred Ill zu ermorden – verhalten. Der Pfarrer, der sich selbst als moralische Instanz sieht, versucht, Ill zu trösten und ihm beizustehen. Dies tut er, obwohl er, genau wie der Rest der Gemeinde, an der Tat mitschuldig ist. Zu Beginn des Buches bewundern alle die makellose Person, die Alfred Ill verkörpert. Doch nach dem Angebot von Claire Zachanassian wenden sie sich gegen ihn. Sie heucheln moralisches Handeln, indem sie beteuern, Ill für seine vergangenen Taten zur Rechenschaft ziehen zu wollen. In Wahrheit geht es ihnen jedoch nur um den versprochenen Betrag von einer Milliarde.

Der Güllener Mob umfasst alle Bürger. Sie alle sind vom Bann des Reichtums gefesselt und bereit, Ill für das Geld zu töten. Kein Einzelner von ihnen würde diese Tat jemals allein begehen. Doch da sie die Schuld auf alle aufteilen, kann jeder für sich behaupten, moralisch im Recht gewesen zu sein.

Alfred Ill zeigt sich währenddessen standhaft und mutig. Er weigert sich, vor den Güllenern zu fliehen, und stellt sich entschlossen seinem Schicksal. Dabei erkennt er die verderbte Natur der Gier und hofft auf die Erlösung der Gemeinde. Für sich selbst verlangt er kein Gebet, sondern eines für Güllen. Ohne Heuchelei nimmt er sein Schicksal an, bittet lediglich um eine Zigarette und schreitet erhobenen Hauptes in die Unendlichkeit.

Quellenverzeichnis

Wikipedia.org (o.J.) Der Besuch der alten Dame. Enzyklopädie. Abgerufen am 21. November 2024, von https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Besuch_der_alten_Dame
Dürrenmatt, F. (1998). Der Besuch der alten Dame. Eine tragische Komödie (62. Auflage). Zürich.
lektuerehilfe.de (o.J.) Der Besuch der alten Dame. Abgerufen am 4. Dezember 2024, von https://lektuerehilfe.de/friedrich-duerrenmatt/der-besuch-der-alten-dame/